Tiko Wyłka

Eingang zum Matotschkin Schar, aus der Sammlung von Nikolaus II.
, 1909

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Ilja Konstantinowitsch Tiko Wyłka (russisch Илья Константинович Вылка; * 28. Februar 1886 in der Siedlung Beluschja Guba auf Nowaja Semlja; † 28. September 1960 in Archangelsk) war ein Künstler, Forscher und politischer Funktionär aus dem indigenen Volk der Nenzen, das im russischen Arktisraum lebt. Er gilt als eine der markanten Persönlichkeiten der sowjetischen Kulturgeschichte im hohen Norden, da er künstlerisches Schaffen, ethnische Selbstvertretung und politische Integration zu verbinden wusste. Sein Neffe war der Schriftsteller Nikolai Semjonowitsch Wyłka. Seine Werke im primitivistischen Stil sorgten für Furore unter den Kunstliebhabern jener Zeit.[1]

Familie und Ausbildung

Schon in jungen Jahren zeigte Wyłka Begabung im Zeichnen und in der Darstellung der arktischen Natur. Sein Vater Hanets Konstantin Wyłka war einer der wenigen gebildeten Menschen in der Siedlung. Er lehrte die Jagd, den Fischfang und die Orientierung in der arktischen Umgebung. Sein Familienname Wyłka stammt vom Nenzen-Wort wy – „Tundra“ („Bewohner der Tundra“, „Tundrabewohner“), der ihm gegebene Vorname Tiko bedeutet Reh, den seine Eltern mit seiner Neugierde begründeten.[2] Irina Hanzerowa schreibt dazu, dass durch die Missionierung der Orthodoxen Anfang des 19. Jahrhunderts eine starke Russifizierung der Namen stattgefunden habe. Viele Nachnamen seien im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Version so verändert, dass es heute fast unmöglich sei, ihren gemeinsamen Ursprung zu erkennen. Der Grund dafür liege höchstwahrscheinlich nicht in der sprachlichen Assimilierung, sondern in der Nachlässigkeit derjenigen, die einst die Nachnamen der Nenzen in die Staatsakten aufnahmen.[3]

Einen ersten Kontakt mit einem Künstler muss Tiko um 1900 herum gehabt haben. Auf seiner Reise durch den arktischen Norden schenkte Mikhail Goldstein (1853–1905) ihm Papier und Bleistifte, während er zuvor nur mit Holzkohle gemalt hatte.[4]

Tiko erhielt elementare Schulbildung. Mit 15 Lebensjahren lernte er den Polarkünstler Alexander Borissow kennen. Die Nenzen waren ihm auf seiner Reise durch die Tundra behilflich und beobachteten, wie Borissows Zeichnungen entstanden, und Tiko versuchte, mit einem Stock auf Sand oder Kohle auf einen Stein zu zeichnen. Boris wurde auf das junge Talent aufmerksam und förderte ihn nach Kräften. Später wurde er durch Kontakte zu russischen Ethnographen und Forschern gefördert, die seine künstlerische Begabung würdigten. Als Borissow die Insel verließ, hatte Tiko weniger eine Mallektion als vielmehr Leidenschaft vermittelt bekommen sowie Papier und Bleistifte. Sein neues Hobby ließ die Verwandten rätseln, ob er Schamane werden könnte. „Die Malerei erschien ihnen als unverständliche Angelegenheit, und die übermäßige Beschäftigung damit wurde als Zeichen dafür wahrgenommen.“[2]

1903 kam der Maler Stepan Pissachow auf die Insel und Tiko hatte seine Fähigkeiten stark verbessert, denn jetzt zeichnete er detailgetreu jede Vertiefung im Schnee, jeden Riss im Stein, jedes Detail der Kleidung einer Person. Pissachow schrieb dazu:

«Работы Вылки поразили меня своей "неровностью", в них удивительно сочетается детская неумелость и сила, полнозвучие и утонченность европейских мастеров. Откуда у него это! (…) Картины Вылки меня поразили глубоким пониманием полярного пейзажа. Картины были исполнены карандашом и акварелью. Исполнение было неровное. Рядом с утонченнейшими акварелями, напоминающими работы лучших мастеров, были резко набросанные черные горы, скалы. В них надо было вглядеться, смотреть надо было иначе, чем на обычные, привычные глазу пейзажи»

„Wyłkas Werke beeindruckten mich durch ihre ‚Ungleichmäßigkeit‘, sie vereinen überraschenderweise die Unbeholfenheit eines Kindes und die Stärke, die volle Stimme und die Raffinesse europäischer Meister. Woher hat er das nur! (…). Die Bilder wurden mit Bleistift und Aquarellfarben gemalt. Die Ausführung war uneinheitlich. Neben den raffiniertesten Aquarellen, die an die Werke der besten Meister erinnerten, gab es scharf skizzierte schwarze Berge und Felsen. Man musste in sie hineinschauen, man musste sie anders betrachten als gewöhnliche, vertraute Landschaften.“

Stepan Pissachow: [2]

Schnell wurden seine Landschaften detaillierter und kreativer und sein Weg zum Ruhm begann mit Bleistiftskizzen. Ein wichtiger Ratschlag seines ersten Lehrers Borissow war: „Lasse deine Hände nicht erfrieren!“ So malte er die meisten seiner Bilder aus dem Gedächtnis, in warmer Umgebung und ohne Eile, sowie nach Fotografien. Er hatte seine eigene Technik, seinen eigenen Arbeitsstil und seine eigene Maltechnik, seine eigene Palette – hell und leuchtend in seiner Jugend und mit zunehmender Reife dunkler werdend.[2]

Leben und Werk

Im Alter von 23 Jahren begleitete er den Polarforscher Wladimir Russanow auf einer Expedition und half diesem bei Kartierungsarbeiten von Nowaja Semlja. Diese Arbeiten wurde von Zar Nikolaus II. mit einer Goldmedaille gewürdigt.[5]

In der Folge studierte Wyłka 1909 bis 1910 kurz an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur (MUSchWS). Wladimir Russanow hatte ihn nach Moskau mitgenommen.[4] Iwan Sosnowski, Gouverneur von Archangelsk, kaufte 1910 mehrere Gemälde von Wyłka und schenkte sie dem Zaren. Dem Herrscher gefielen die Gemälde sehr gut, und drei Monate später bedachte er den Künstler mit fünf Ladewinden, tausend Patronen und sechshundert Rubel Bargeld.[5]

Im Frühjahr 1911 kehrte Wyłka aus Moskau zurück und absolvierte in Archangelsk eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Anschließend kehrte er nach Nowaja Semlja zurück, weil sein Cousin gestorben war und er der Familientradition folgend dessen Witwe heiraten musste, die sechs Kinder hatte.[6] Um die Familie zu ernähren, beanspruchte fast seine gesamte Zeit die Jagd und der Kampf ums Überleben. Die vom Zaren geschenkte Goldmedaille gab er für ein paar Kilo Butter einem norwegischen Schiffer. Seine in Moskau erworbenen Kenntnisse in Geografie, Mathematik und Russisch teilte er mit den Einheimischen. Seine Beschäftigung mit Tierpräparation und Pflanzentrocknung deuten auf seinen Wunsch hin, konservatorisch zu wirken. Auch seine bildnerische Arbeit setzte er fort.[2]

Nach der Oktoberrevolution war Wyłka ab 1924 lange Zeit Vorsitzender der Arbeiterdeputiertenräte der Siedlung und der Insel Nowaja Semlja. Er ging weiterhin auf die Jagd und lebte vom Fischfang. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligte sich Wyłka an der Verteidigung der Insel. Dafür wurde er mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit, dem Orden des Roten Sterns und anderen staatlichen Auszeichnungen geehrt. Aufgrund seiner großen Verdienste um die Erforschung von Nowaja Semlja wurde er zum Vollmitglied der Geographischen Gesellschaft der UdSSR gewählt.[2]

1950 wurde auf Nowaja Semlja ein Atomtestgelände eingerichtet und alle dort lebenden Nenzen mussten die Insel verlassen. Wyłka zog vorbildhaft als einer der ersten mit seiner Familie in die Großstadt Archangelsk, während andere seiner Landsleute zwangsumgesiedelt wurden. Für den Rest seines Lebens träumte er davon, in seine Heimat zurückzukehren, doch dazu kam es nicht mehr.[2] Tyko Wyłka starb 1960 im Alter von 74 Jahren in Archangelsk und wurde auf dem Wologda-Friedhof beigesetzt. Sein Grab wurde zum Kulturerbe erklärt.[7]

Literatur

  • Аnnа Мichalovna Shcherbakowa: Tyko Wyłka, Buchverlag des Mittelurals 1965. Das Cover zeigt eine Zeichnung Wyłkas.

Einzelnachweise

  1. Аnnа Мichalovna Shcherbakowa: Tyko Vylka, 1965 im Buchverlag des Mittelurals.
  2. a b c d e f g Viktoria Kuzmenko: ‚Ushkuy ist ein großes Tier.‘ Wie Tyko Wyłka, ein Künstler aus der Tundra, ein großer russischer Maler wurde. Lenta.ru, 13. Juli 2016 (russ).
  3. Irina Hanzerowa: Назови меня тихо по имени. Internet Archive von Няръяна вындер, Narjan-Mar, 28. Februar 2003 (russ).
  4. a b Вылка Илья Константинович (1886–1960) – ненецкий художник, сказитель, исследователь Арктики, общественный деятель, Dobroljubow-Regionalbibliothek Archangelsk.
  5. a b Olga Efimowna Woronowa: First Nenets painter Tyko Vylka 1886-1960. In: President of Novaya Zemlya Tyko Vylko, Soviet Artist, Moskau, 1977.
  6. Вылка Илья Константинович. Литературная карта Архангельской области, Шенкурский район. (russ.)
  7. Культурное наследие города Архангельска. Komitee für Kultur der Region Archangelsk, 2009, S. 12.