Schwester Carrie

Revuegirls am Broadway, um 1900

Schwester Carrie (en: Sister Carrie) ist der 1900 erschienene erste Roman von Theodore Dreiser. Er schildert den Aufstieg eines jungen Mädchens aus der Provinz zu einem gefeierten Bühnenstar in New York und den gleichzeitigen Abstieg ihres Liebhabers vom eleganten Weltmann zum obdachlosen Bettler. Er orientiert sich am naturalistischen Schreibkonzept von Emile ZolasLe roman expérimental“, an Honoré de Balzacs Formulierungslust und an den sozialdarwinistischen Konzepten Herbert Spencers. Die geschilderte uneheliche Beziehung zwischen den Hauptdarstellern bewirkte eine moralische Verurteilung durch das zeitgenössische Publikum und führte zuletzt zur Selbstzensur durch den Verleger.

Eine große Rolle im Roman spielt das Theater, als reale Institution und als Metapher für das gesellschaftliche Leben um 1900, das sich um Gesehen und Gesehen-werden dreht. Sowohl aus „ausgehaltene Frau“, die „ihre Unschuld verloren hat“, als auch als unerreichbarer Star und Ziel männlicher Wünsche und Projektionen, übt Carrie eine Form von Prostitution aus.

Handlung

Straßenszene in den USA um 1900

1889. Die 18-jährige Caroline Meeber, genannt Carrie, verlässt ihr Elternhaus in einer Provinzstadt in Wisconsin, um in der Großstadt Chicago bei ihrer älteren Schwester Minnie und deren Ehemann Sven ein neues Leben zu beginnen. Auf ihrer Zugfahrt nach Chicago lernt Carrie den Handlungsreisenden Charles Drouet kennen, der sich auf Anhieb für sie interessiert. Die Redegewandtheit und die modische Kleidung des eitlen, aber gutmütigen Stadtmenschen Drouet hinterlassen einen bleibenden Eindruck bei Carrie. Nach einer kurzen Unterhaltung tauschen sie ihre Adressen aus, vereinbaren ein Treffen, gehen aber am Bahnhof getrennte Wege.

Angekommen in der engen Wohnung der Familie von Minnie, ist Carrie von dem dort herrschenden ärmlichen und unfreundlichen Klima entsetzt und beschließt, das vereinbarte Treffen mit Drouet bei ihrer Schwester abzusagen. Carries Schwager Sven fordert sie schroff auf, sich bald eine Arbeit zu suchen, um für Essen und Unterkunft zahlen zu können. Nach etlichen gescheiterten Versuchen, als Ungelernte einen Job zu finden, beginnt Carrie in einer Schuhfabrik für kargen Lohn zu arbeiten. Durch körperliche Anstrengung und psychischen Stress wird sie nach kurzer Zeit krank und wagt es danach nicht mehr, auf ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Kurz davor, aufzugeben und nach Hause zurückzukehren, begegnet sie zufällig Drouet, der sie zum Essen einlädt. Er bietet ihr seine finanzielle Hilfe an und überzeugt sie, mit ihm in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Carrie wird Drouets Geliebte, nimmt neue Gewohnheiten an und lernt, sich ihrem neuen sozialen Status entsprechend zu verhalten.

Drouet macht Carrie mit einem einflussreichen Freund und Förderer bekannt, George Hurstwood, der als Geschäftsführer eine elegante Bar im Stadtzentrum leitet. Kurz nach ihrer Begegnung beginnt der unglücklich verheiratete Hurstwood eine leidenschaftliche Affäre mit Carrie. Durch einen Zufall bekommt Carrie die Möglichkeit, als Schauspielerin an einer Aufführung eines Amateurtheaters mitzuwirken. Das Publikum und Carries Liebhaber sind von ihrer Leistung beeindruckt.

Julia, die kaltblütige und auf ihren Vorteil bedachte Ehefrau Hurstwoods, konfrontiert ihren Ehemann mit ihrer Kenntnis von seinen heimlichen Treffen mit Carrie. Sie verlangt die Scheidung und erhebt (den wahrscheinlich erfolgreichen) Anspruch auf den größten Teil des gemeinsamen Vermögens. Carrie, die erst jetzt erfährt, dass Hurstwood verheiratet ist, bricht jeglichen Kontakt zu ihm ab.

Der deprimierte Hurstwood betrinkt sich in seiner Bar, als sich ein ungewöhnlicher Zufall ereignet. Der Kassierer hat den Tresor, zu dem Hurstwood keinen Schlüssel hat, zu schließen vergessen. Hurstwood kann der Versuchung nicht widerstehen, die sich darin befindenden Tageseinnahmen von 10.000 Dollar zu stehlen. Er sucht Carrie auf, um mit ihr zu dem angeblich im Krankenhaus liegenden Drouet zu fahren. Unterwegs bemerkt Carrie, dass er sie angelogen hat und sie in Wirklichkeit nach Montreal fahren. Carrie reagiert entrüstet, aber lässt sich von Hurstwood überreden, bei ihm zu bleiben. In Kanada plagt Hurstwood sein schlechtes Gewissen, er schickt den größten Teil des Geldes an die Eigentümer der Bar zurück und beschließt, nach New York zu ziehen.

Broadway, Palais Royal, um 1900

In New York mieten die „frisch Verheirateten“ eine Sechszimmerwohnung und nennen sich fortan Wheeler. Mit dem behaltenen Geld kauft sich Hurstwood in eine Bar ein, die jedoch nicht so elegant und profitabel ist wie die ehemals in Chicago geführte. Während der ersten zwei Jahre haben die Eheleute ein einigermaßen gutes Auskommen, aber wenig soziale Kontakte. Im dritten Jahr jedoch lernt Carrie ihre neu zugezogene Nachbarin, Frau Vance, kennen und ist auf Anhieb beeindruckt von ihrem exklusiven Lebensstil.

Hurstwood muss die Bar schließen und findet mit dem bescheidenen Erlös keine neue Möglichkeit, wo anders eine neue zu übernehmen. Er macht sich auf die Suche nach einer Arbeit als Geschäftsführer, aber er hat durch seine Flucht aus Chicago seine gesellschaftliche Stellung und damit auch Selbstsicherheit und Energie verloren. Nach etlichen gescheiterten Bewerbungen resigniert er. Er vernachlässigt sein Äußeres. Schließlich verlässt er die Wohnung nicht mehr, sitzt stundenlang im Sessel, über seinen Zeitungen dösend.

Ohne Einkommen schrumpfen Hurstwoods Ersparnisse schnell, trotz Einschränkungen und des Umzugs in eine billigere Wohnung. Carrie ist verärgert und sieht nach wie vor Hurstwood in der alleinigen Verantwortung, den gemeinsamen Lebensunterhalt zu bestreiten. Erst als die finanzielle Lage eskaliert und Carrie sich keine neuen Kleider mehr kaufen kann, will sie ihr eigenes Geld verdienen und wird in einem Theater als Chormädchen eingestellt. Sie steigt schnell zur Chorleiterin auf, dann zur Schauspielerin in einer stummen Nebenrolle. Sobald sie genug verdient, um davon leben zu können, verlässt sie Hurstwood.

In der Folge entwickelt sich Carrie zu einem berühmten Komödienstar und lebt in Luxus. Sie bekommt, was sie sich immer gewünscht hatte, schöne Kleider, Geld und Ruhm, stellt aber überrascht fest, dass sie nicht glücklich ist.

Hurstwood scheitert weiter daran, Arbeit zu finden, wird obdachlos und zum Bettler. Schließlich nimmt er sich in einer Absteige das Leben.

Struktur

Broadway mit Kreuzung zur Chestnut Street

Theodore Dreisers Roman Schwester Carrie zählt zum Kanon des amerikanischen Naturalismus. Die Städte Chicago und New York sind Schauplätze zweier Experimente, die mit den Protagonisten durchgeführt werden. In dem Buch hat Dreiser Émile Zolas Konzept des experimentellen Romans umgesetzt: Demnach besteht die Aufgabe des Autors darin, Rahmenbedingungen für die mit verschiedenen Charaktereigenschaften ausgestatteten Protagonisten zu gestalten und als außenstehender Beobachter aufzuschreiben, wie sie entsprechend ihren Eigenschaften, den gegebenen Umständen und den äußeren Einflüssen handeln.

Zudem veranschaulicht Schwester Carrie das von Herbert Spencer entworfene Konzept von Evolution und Dissolution. Demnach ist jeder Mensch (fast) ständig Veränderungen unterworfen; in der Jugend entwickelt er sich „aufwärts“, bis er sein (biologisch vorgegebenes) Potential ausgeschöpft hat; nach einer gewissen Zeit auf dem erreichten Niveau folgt unweigerlich ein zuerst langsamer, dann schnellerer Abstieg, der sein Ende im Tod des Individuums findet. Dreiser gibt diesen Gedankengang im Roman selbst wieder, in einem der (seltenen) Kommentare des Autors zum Verhalten seiner Protagonisten.

Zu Beginn des Romans steht Carrie am Beginn ihres Entwicklungspotentials. Sie ist nicht nur jung, sondern auch unerfahren und ohne jede Ausbildung. Sie träumt von den glänzenden Lichtern der Großstadt Chicago, von vornehmen Leuten in schönen Kleidern, die sich jeden Abend in Restaurants und Theatern vergnügen. Erst in New York ist sie entwickelt genug, um ihre Schauspielkarriere mit Ambition zu verfolgen. Ausschlaggebend für ihren Erfolg sind ihr Tatendrang, ihre bisher gesammelte Erfahrung, die Fähigkeit sich ihrer Umwelt anzupassen und ihr neu erworbenes Selbstbewusstsein. Für ihr nach den Maßstäben der Zeitgenossen unmoralisches Verhalten wird sie nicht bestraft, sondern mit Luxus und Ruhm belohnt. Am Ende des Romans bleibt offen, ob Carrie damit bereits ihren Zenit erreicht hat und am Beginn des Abstiegs steht, oder ob sie noch die mentale Stärke zur Weiterentwicklung besitzt und von den bisher gespielten seichten Komödien ins ernste dramatische Fach wechseln wird.

Dagegen macht Hurstwood eine umgekehrte Entwicklung durch. Als erfolgreicher, weltmännischer Geschäftsmann wird er zu Beginn des Romans eingeführt. Sein finanzieller und mentaler Absturz beginnt mit der Affäre zu Carrie und der drohenden Scheidung, die den Verlust seines Vermögens nach sich ziehen wird. In einer Kurzschlusshandlung stiehlt er das Geld, worauf er mit unaufhaltsamer Konsequenz sein gutes Einkommen und seinen Ruf verliert, was die Depressionen auslöst, die es ihm psychisch unmöglich machen, nach dem Verlust seiner Bar wieder einen Beruf zu ergreifen. Sein Selbstmord am Ende des Romans setzt den Schlusspunkt auch hinter Spencers Abstiegserzählung.

Broadway-Chambers Building an der Ecke Broadway/Chambers street, erbaut 1900 von Cass Gilbert

Beide Protagonisten zusammengenommen bilden die Struktur eines X: Carries Lebenslauf ist ein Pfeil nach oben, Hurstwoods Lebenslauf ein Pfeil nach unten. Dass die Frau stark und siegreich ist, während ihr männlicher Widerpart schwächlich zugrunde geht, ist vor dem Hintergrund des traditionellen viktorianischen Frauenbilds eine Provokation.

Für die Leser des 21. Jahrhunderts ist dieser Umstand – so wie die unehelichen Beziehungen Carries – kein Ärgernis mehr. Was heute noch auffällt und irritiert, ist, dass die Stimme des Autors der Protagonistin immer wieder tief empfundene Gefühle unterstellt, jedoch auf der Handlungsebene der Eindruck extremer Gefühlskälte vermittelt wird. Carrie zögert nicht, Hurstwood zu verlassen, sobald er ihr nicht mehr nützlich sein kann. Obwohl sie von Hurstwood und Drouet leidenschaftlich geliebt wird, lässt sie deren Liebe bloß über sich ergehen. Sie schätzt an ihren Liebhabern nur die finanzielle Sicherheit, die sie ihr bieten können. (Solange sie es können.) Ironischerweise verdankt Carrie ihren späteren Bühnenruhm ihrer „anmutigen Haltung“ und ihrer Fähigkeit, dem Publikum glaubhaft Gefühle vorzuspielen.

Alle Figuren des Romans, auch die Nebenpersonen, werden durch unüberlegte Entscheidungen, Zufälle und Schicksalsschläge getrieben, und sie gestalten nur in geringem Maß ihr eigenes Schicksal. So steigt Carrie in den „Nachmittagszug nach Chicago“ ohne einen Gedanken darüber, wie es ihr dort gelingen sollte, ohne Ausbildung in einem Beruf Fuß zu fassen. Auch erfahren die Leser nichts über ihre Vergangenheit – außer dass ihr Vater in einem Steinbruch gearbeitet hatte – und wieso sie von ihren Eltern unvorbereitet in die große Welt entlassen wurde.

Doubleday-Affäre

Dreisers Buch wurde von Frank Nelson Doubleday für seinen erst vor kurzem gegründeten Verlag akzeptiert. Als die Frau des Verlegers zufällig das Manuskript in die Hand bekam und es las, war sie von dessen unmoralischem Inhalt so schockiert, dass sie ihren Mann bedrängte, es nicht zu veröffentlichen. Der Vertrag war bereits abgeschlossen und Dreiser bestand auf seine Einhaltung. Doubleday ließ das Buch in einer sehr kleinen Auflage drucken und beschränkte die Werbekampagne drastisch.

Diese „Doubleday-Affäre“ ist als „einer der berühmtesten Zensurskandale in die amerikanische Literaturgeschichte eingegangen“.[1]S. 197 Sie verstärkte bei Dreiser die schon vorher sein Leben prägenden psychischen Probleme. Nach einem längeren Aufenthalt im Nervensanatorium wurde er als Journalist und Herausgeber von Modezeitschriften erfolgreich, bis er sich 1910 wieder der Literatur zuwandte.

Das Theater in Sister Carrie

Theater als eine Institution sowie auch als eine gesellschaftliche Instanz spielt eine große Rolle im Roman. Es dient als Hauptmetapher im Text für das Leben in der anonymen Großstadt (Chicago und New York) um die Jahrhundertwende. Die bedeutsame Rolle des Theaters wird insbesondere in der Romanszene deutlich, in der Carrie in dem Amateur-Theaterstück Under the Gaslight[2] auftritt. Carries Garderobe hinter der Bühne ist der Ort, an dem die drei Hauptfiguren des Romans aufeinander treffen, welcher die zweite Phase des Romans einleitet, in der Carrie nun mit Hurstwood statt mit Drouet zusammen lebt und sich somit in dem zweiten Abhängigkeitsverhältnis ohne Heirat befindet.

Die Rolle des Theaters für das gesellschaftliche Leben des 19. Jahrhunderts

Theater spielt auch im gesellschaftlichen Leben eine große Rolle, es ist ein Schauplatz für das Sehen-und-Gesehen-werden.[3][4] Es sind jedoch nur die wohlhabenden Leute, die die Mittel- und Oberschicht der Gesellschaft bilden, die Zugang zum Theater haben. Dies wird deutlich in der Szene, in der Hurstwood Carrie, die zu diesem Zeitpunkt schon ein gefeierter Star des New Yorker Theaters ist, aufsucht, jedoch keinen Zugang ins Theater erhält wegen seiner äußeren Erscheinung.[5]

Das Theater im Roman symbolisiert ein gesellschaftliches Ereignis, welches die Instanz der neuen Unterhaltungskultur bildet. In der Stadt dient das Theater als Schauplatz gesellschaftlicher Ereignisse. Demzufolge ist Theater in Sister Carrie eine Metapher für die so genannte society of the spectacle – eine kritische Auseinandersetzung Guy Debords mit der kapitalistischen Ideologie des Konsums –, die soziale Beziehungen durch Konsum von Waren ersetzt. Darüber hinaus werden Theaterstücke mitunter als Vorbilder für normatives gesellschaftliches Verhalten gesehen.

Im Roman repräsentiert das Theater auch die Möglichkeit für einen sozialen Aufstieg: Es ist sogar die einzige Möglichkeit für Carrie zu einem Aufstieg in der Gesellschaft überhaupt. Sie besitzt keine beruflichen Qualifikationen und sie ist nicht gebildet. Sie kann jedoch gut imitieren, andere Menschen nachahmen und besitzt eine nötige Eitelkeit um all dies glaubwürdig darzustellen.[6] Das Theater gibt ihr die Möglichkeit zum Ausdruck, und was noch wichtiger ist, eine Möglichkeit zum Verdienst. Es bietet ihr die Möglichkeit unabhängig zu sein, sich auf sich selbst verlassen zu können und auf diese Fähigkeit, die sie am besten beherrscht, ihr Leben aufzubauen.

"Verlust der Unschuld" und Prostitution als Metapher

In dieser Hinsicht bleibt Carrie nach dem "Verlust ihrer Unschuld" eine Art Prostituierte.[7] Anfangs ist sie eine Art Prostituierte durch die Abhängigkeit von Drouet und Hurstwood, später im Theater. In Chicago lebt sie in finanzieller Abhängigkeit von Drouet, später in New York von Hurstwood. In New York City kann sie sich letztendlich durch ihre Karriere als Schauspielerin finanziell unabhängig in der Gesellschaft bewegen, wobei ihr Erfolg jedoch auf dem Äußeren, auf ihrer Schönheit, sowie auf ihrer Fähigkeit zur Imitation basiert, auf Grund dessen ihr der soziale Aufstieg gelungen ist.

"Verlust der Unschuld"

Carries "Fall", bzw. ihr "Verlust der Unschuld" (fall from innocence) ist im Roman an jener Stelle versinnbildlicht, als sie die Eindrücke der Stadt mit Wärme verbindet. In dieser Szene hält Drouet ihre Hand freundlich und schlendert mit ihr gemeinsam durch die Stadt. Während Carrie ihren Blick in den Straßen der Stadt träumerisch schweifen lässt, blickt Drouet sie unverwandt an:

„He took her hand and held it genially. He looked steadily at her as she glanced about, warmly musing.[8]

Diese unterschiedliche Blickrichtungen und -arten, sowie zwei direkt anschließende Szenen noch im selben Kapitel verraten etwas über die Veränderung der Beziehung zwischen Carrie und Drouet und deuten an, dass Carrie mit Drouet eine intime Liebesbeziehung eingeht, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Diese Form des Zusammenlebens wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie auch Anfang des 20. Jahrhunderts als "Verlust der Unschuld" und des Anstands junger Frauen betrachtet.

Drouets steter Blick wirkt wie ein Raubtier, welches sein Opfer fixiert, während Carries schweifender und träumender Blick, hypnotisiert von den Eindrücken der Stadt, das perfekte Opfer darstellt:

„She was again the victim of the city’s hypnotic influence.[9]

Sie bemerkt Drouets Blick in diesem Moment nicht einmal. Anschließend an die Szene des durch die Stadt schlendernden Paares träumt Carries Schwester Minnie von einem großen Verlust und dem Fall Carries von einem Felsen.[10] Eine zweite nachfolgende Szene zeigt wie Drouet eine Woche nach der Szene mit Carrie Hurstwood in dessen Büro besucht, um ihn in zu einem Besuch seines neuen Heims mit Carrie einzuladen. Auf diesem Wege erfahren wir von dem Zusammenzug von Carrie mit Drouet in eine gemeinsame Wohnung. Während Carries gesellschaftlicher „Fall“, bzw. „Verlust ihrer Unschuld“ in Minnies Traum sinnbildlich durch Carries Fallen von einem rutschigen Felsen dargestellt wird, stellt die zweite Szene, in der Drouet Hurstwood zu einem Abend zu dritt einlädt, die Präsentation seiner Trophäe Carrie gegenüber seinem Freund dar. Drouet hat Carrie also erobert, während Carrie sich Sorgen um ihren gesellschaftlichen Status aufgrund ihrer verlorenen Unschuld macht:

„'Oh,' thought Drouet, 'how delicious is my conquest.' 'Ah,' thought Carrie, with mournful misgivings, 'what is it I have lost?'[11]

Prostitution als Metapher

Die finanzielle Abhängigkeit von ihren zwei Verehrern Drouet und Hurstwood und der damit einhergehende "Verlust der Unschuld" sowie ihre Tätigkeit als erfolgreiche Schauspielerin kann metaphorisch als eine Form der Prostitution interpretiert werden. In beiden Fällen, sowohl in ihren Liebesverhältnissen,[12] als auch in der schauspielerischen Darstellung auf der Theaterbühne[13] werden auf Carrie männliche Phantasien idealisierter Weiblichkeit projiziert.[14] Die metaphorische Prostitution Carries beginnt mit ihrer Passivität – gekoppelt mit ihrer Käuflichkeit aufgrund ihrer materiellen Sehnsüchte –, und wird im Verlauf des Romans durch ihr Talent zur Imitation fortgeführt. Dabei steigert sie ihre Attraktivität und Popularität durch die Perfektion der Imitation. Diese verlangt allein ihre äußerliche Erscheinung und die Performanz weiblicher körperlicher Grazie, die Carrie als gesellschaftlich standardisiertes Ideal von Weiblichkeit bedient und somit eine gesellschaftliche Rolle erfüllt. Statt der Rolle der ehrbaren verheirateten Frau übernimmt sie die Rolle der schönen, unerreichbaren und gefährlichen gesellschaftlichen Figur der Prostituierten[15] – für ihre Liebhaber als auch fürs Theaterpublikum.

Im Fall der beiden Verehrer wird sie für die beiden Männer ausgerechnet in jenem Moment besonders begehrenswert, als sie ihre Unsicherheit während der Aufführung ihres ersten Auftritts des Amateur-Theaterstücks überwindet und das Publikum durch ihr Schauspiel in den Bann zieht.[16][17][18] Ihre Attraktivität erhöht sich demnach durch diesen ersten Auftritt, mit dem sie Macht über ihre Verehrer erhält:

„They only saw their idol, moving about with appealing grace, continuing a power which to them was a revelation.[19]

In dieser Romanszene wird das Zusammentreffen des Begehrens ihrer Liebhaber sowie des Theaterpublikums deutlich. Liebhaber und Publikum sind gleichermaßen von Carrie begeistert und fasziniert. Genauso wie Prostituierte gleichzeitig bewundert und aufgrund ihrer Macht gefürchtet werden, erfährt Carrie in dem Moment des Erfolgs und der Unabhängigkeit den unangenehmen Beigeschmack dieser Macht. Sie bemerkt, dass sie die Position einer Prostituierten eingenommen hat:

„The independence of success now made its first faint showing. With the tables turned, she was looking down, rather than up, to her lover.[20]

Statt sich also an ihrer machtvollen Position zu erfreuen, erkennt sie in diesem Erfolg die negative Implikation.

Verfilmung

1952 wurde die Romanvorlage verfilmt.

Ausgaben

  • Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7.
  • Theodore Dreiser: Schwester Carrie. aus dem Englischen von Anna Nußbaum. Paul Zsolnay, Wien 1929.
  • Theodore Dreiser: Schwester Carrie. Ille & Riemer, Leipzig/ Weißenfels 2004, ISBN 3-936308-20-9. (Neuausgabe der Nußbaum-Übersetzung mit einem Nachwort von Prof. Dr. Heike Paul)
  • Theodore Dreiser: Sister Carrie. aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Susann Urban. Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, ISBN 978-3-8477-0392-1. (Nachwort: Ilija Trojanow; erstmals aus der ungekürzten Urfassung übersetzt)

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Kurt Müller: Dreiser, Theodore Herman. in: Bernd Engler, Kurt Müller (Hrsg.): Metzler Lexikon amerikanischer Autoren. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2000, ISBN 3-476-01654-4, Seite 196–200.
  2. Das Theaterstück Under the Gaslight (1867) von Augustin Daly ist ein melodramatisches und Dalys erstes erfolgreiches Theaterstück, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf zahlreichen Theaterbühnen der USA erfolgreich aufgeführt wurde. Siehe auch: Augustin Daly. (Memento vom 3. Juli 2012 im Internet Archive) (englisch)
  3. “He [Hurstwood] was evidently a light among them, reflecting in his personality the ambitions of those who greeted him. He was acknowledged, fawned upon, in a way lionized. Through it all one could see the standing of the man. It was a greatness in a way, small as it was.” Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 171.
  4. "He was more generally known than most others in the same circle, and was looked upon as someone whose reserve covered a mine of influence and solid financial prosperity." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 169.
  5. "People turned to look after him, so uncouth was his shambling figure. (…) He stopped stock still, his frayed trousers soaking in the slush, and peered foolishly in [through the windows of an imposing restaurant]." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 477.
  6. "(…) Carrie was naturally imitative. She began to get the hang of those little things which the pretty woman who has vanity invariably adopts. In short, her knowledge of grace doubled, and with it her appearance changed. She became a girl of considerable taste." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 103. "(…) a little suggestion of possible defect in herself [was] awakening in her mind. (…) Instinctively, she felt a desire to imitate it." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 100.
  7. "Although Carrie rises to fame as a Broadway actress (…) she is really a showgirl who shares with [Emile Zola’s] Nana the lack of any real acting talent. This aligns her more with the entrapment of the naturalist prostitute than with the new woman who ‘writes’ her own life as an artist." Irene Gammel: Sexualizing Power in Naturalism: Theodore Dreiser and Frederick Philip Grove. 1994, S. 75.
  8. Theodore Dreiser: Sister Carrie. A Signet Classic, 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 80.
  9. Theodore Dreiser: Sister Carrie. A Signet Classic, 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 79.
  10. „The last [strange scene] made her [Minnie, Carrie’s sister] cry out, for Carrie was slipping away somewhere over a rock, and her fingers had let loose and she had seen her falling. (…) She [Minnie] came away suffering as though she had lost something. She was more inexpressibly sad than she had ever been in life.“ Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 80–81.
  11. Theodore Dreiser: Sister Carrie. A Signet Classic, 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 90.
  12. "Both Hurstwood and Drouet viewed her pretty figure with rising feelings. The fact that such ability should reveal itself in her, that they should see it set forth under such effective circumstances, framed almost in massy gold and shone upon by the appropriate lights of sentiment and personality, heightened her charm for them." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 179.
  13. "The audience, which had been inclined to feel that nothing could be good after the first gloomy impression, now went to the other extreme and saw power where it was not." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 178.
  14. "Dreiser aligns the new, financially independent woman with the naturalist prostitute, by emphasizing that Carrie’s spectacular success on stage is built on a very subliminal fantasy of power and pleasure for the male audience. When Carrie is on stage, men project different fantasies into her body; for each she becomes something different, like the prostitute who is called on to become any feminine type her customer requires." Irene Gammel: Sexualizing Power in Naturalism: Theodore Dreiser and Frederick Philip Grove. 1994, S. 74.
  15. "As a sexual icon she [Nana; and Carrie as naturalist prostitute] represents the danger of eros with its implicit threats of social contamination and corruption." Irene Gammel: Sexualizing Power in Naturalism: Theodore Dreiser and Frederick Philip Grove. 1994, S. 74.
  16. Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 182.
  17. "Their [Drouet’s und Hurstwood’s] affection for her naturally heightened their perception of what she was trying to do and their approval of what she did." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 158.
  18. "It was in the last act that Carries fascination for her lovers assumed its most effective character." Theodore Dreiser: Sister Carrie. Hammondsworth, Signet Classic 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 179 "The manager suffered this as a personal appeal. It came to him as if they were alone, and he could hardly restrain the ears for sorrow over the hopeless, pathetic, and yet dainty and appealing woman whom he loved. Drouet also was beside himself." ebenda, S. 182.
  19. Theodore Dreiser: Sister Carrie. A Signet Classic, 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 183.
  20. Theodore Dreiser: Sister Carrie. A Signet Classic, 2000, ISBN 0-451-52760-7, S. 184.

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