Orthodoxer Friedhof in Warschau

Der Orthodoxe Friedhof in Warschau (polnisch: Cmentarz prawosławny w Warszawie) liegt an der Wolska-Straße 138/140 im Warschauer Stadtteil Ulrychów des Stadtbezirks Wola. Er ist der einzige Friedhof für orthodoxe Christen in Warschau und der größte Polens.[1] Seine Fläche beträgt zwischen 13 und 18 Hektar (unterschiedliche Angaben bei Friedhofs- und Stadtverwaltung). Die Zahl der dort begrabenen Personen lässt sich wegen kriegsbedingtem Dokumentenverlustes nicht mehr ermitteln. 1965 wurde der Friedhof erstmalig in das Register der historischen Denkmäler Warschaus aufgenommen.[2]

Lage

Der Friedhof erstreckt sich zwischen den früheren Wällen einer 1831 errichteten Befestigungsanlage, der sogenannten Wolska-Redoute (auch: Redoute Nr. 56). Diese Redoute war auf einer vormaligen, während des Kościuszko-Aufstands errichteten Verteidigungsstellung erbaut worden. Heute befindet sich hier die Kreuzung der Wolska- und Redutowa-Straßen, von der aus der Friedhof sich nordostwärts erstreckt.

Geschichte

Bis zu den 1830er Jahren lebte nur eine geringe Anzahl orthodoxer Christen in Warschau, weshalb der Glaubensgemeinschaft kein eigener Friedhof zur Verfügung stand. Bestattungen fanden in dafür vorgesehenen Bereichen des Evangelisch-Reformierten Friedhofs (damals noch in der Leszno-Straße), dem Evangelischen Friedhof Augsburger Bekenntnisses sowie dem katholischen Powązki-Friedhof statt.

Nach der Niederschlagung des Novemberaufstands kam es zu einer zunehmenden Russifizierung Warschaus und damit zu einem Anstieg der Zahl der in der Stadt lebenden russisch-orthodoxen Christen. 1834 wurde in der Stadt die erste orthodoxe Gemeinde gegründet und man beschloss, einen Friedhof für die Gemeinde anzulegen. Ein zaristisches Dekret aus demselben Jahr bestätigte die Errichtung eines Friedhofes anstelle einer bisherigen kleinen katholischen Begräbnisstätte. Im Rahmen der Umsetzung des Erlasses wurde auch die dort stehende römisch-katholische Laurentiuskirche in eine orthodoxe Kirche (Unserer Lieben Frau von Wladimir) umgewandelt. Zusätzlich wurde ein Grundstück von der Familie Biernackie-Poraj – damals Eigentümer eines Großteils von Wola – angekauft; auf dem zusammengelegten Areal wurde unter Aufsicht des Ingenieurs F. I. Golików der neue Friedhof angelegt.

Die ersten Bestattungen fanden bereits 1836 statt, vermutlich handelte es sich um russischer Offiziere und Soldaten orthodoxen Glaubens. Am 26. Juni 1836 wurde der Gouverneur von Warschau, der russische General Nikita Pankratiev (1788–1836), auf dem Friedhof beigesetzt. 1838 wurde der Friedhof geweiht, obwohl die Bauarbeiten noch nicht abgeschlossen waren.

Alter Glockenturm und vormalige Grabkapelle der Familie Mieszczerski, die seit den 1970ern als Friedhofskapelle dient

Friedhofseröffnung

Der Friedhof wurde Ende 1839 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht; zu diesem Zeitpunkt war sein Bau abgeschlossen und das Gelände der orthodoxen Gemeinde übergeben worden. Die offizielle Eröffnung fand allerdings erst am zehnten Jahrestag der Schlacht bei Wola im August 1841 statt. Gleichzeitig wurde auch die Friedhofskirche geweiht. Ab 1842 verpflichtete ein Dekret orthodoxe Gläubige, ihre Toten auf diesem Friedhof zu bestatten.

Bis 1863 wurden hier mehr als 16.000 Menschen bestattet. Das Friedhofsgelände wurde 1903 erweitert und der Bau der orthodoxen Kirche zum Heiligen Johannes Klimakos am südlichen Rand des Friedhofs begonnen. Die im byzantinischen Stil entworfene Kirche des Architekten Wladimir Alexandrowitsch Pokrowski war im Jahr 1905 fertiggestellt. Als Vorbild dienten Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Gegend von Rostow am Don. Auf einem 1911 erworbenen weiteren angrenzenden Grundstück wurde 1912 ein zweistöckiges Pfarrhaus aus Backstein errichtet. Die vormalige Laurentius-Kirche wurde nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens wieder zu einer römisch-katholischen Kirche.

Das gesamte Friedhofsgelände war in vier Abschnitte unterteilt, in denen Verstorbene entsprechend ihrer sozialen Stellung bestattet wurden. Der Abschnitt, der der Kirche am nächsten liegt, war für die Bestattung von höheren Offizieren und Beamten sowie deren Familien und für orthodoxe Geistliche vorgesehen. Im zweiten Abschnitt wurden niedere Offiziere, Beamte, Mitarbeiter der Kirche sowie wohlhabende Gemeindemitglieder bestattet. Im dritten Abschnitt waren es Soldaten und weniger Wohlhabende. Der vierte bestand aus Gräbern für Arme.

Erster Weltkrieg

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Evakuierung der orthodoxen Geistlichen nach Russland im Jahr 1915 führten zur Vernachlässigung und einem schleichenden Verfall des Friedhofs. Das Fehlen eines Zaunes erleichterte Vandalismus an den Grabmalen. Die von den Priestern nach Russland mitgenommenen Unterlagen der Friedhofsverwaltung gingen verloren.

Zweiter Weltkrieg

Während des Schlacht um Warschau 1939 blieb der Friedhof unbeschädigt, obwohl die Verteidigungslinie am 8./9. September in der Nähe der Laurentiuskirche verlief und dort die Wolska-Straße kreuzte.

Während des Warschauer Aufstands waren in dem Gebiet deutsche Truppen stationiert. Im Rahmen des Massakers von Wola kam es vielfach zu Massenmorden an der polnischen Bevölkerung. Auf dem Friedhof erschossen und verbrannten deutsche Einheiten rund 1.500 Einwohner des Distrikts. Am 5. August 1944 ermordeten die Deutschen hier rund 100 Kinder und Mitarbeiter des nahegelegenen orthodoxen Waisenhauses der Johannes-Klimakos-Pfarrei. Die Laurentiuskirche diente als Unterkunft deutscher Soldaten und wurde bei Kämpfen teilweise zerstört.

Heute

Unter den mehreren tausend Grabsteinen sind viele von künstlerischem und historischem Wert. So befinden sich hier Werke von Bildhauern wie Andrzej Pruszyński, Bolesław Syrewicz (1835–1899), Henryk Żydok (1856–1906) und Stanisław Gundlach, sowie von Architekten wie Stanisław Noakowski und Borys Zinserling. Die Grabsteine des 19. Jahrhunderts enthalten großteils künstlerische byzantinische Dekorationen, weshalb sich die Anmutung der Anlage von polnischen katholischen Friedhöfen unterscheidet. Aufgrund der Vielfalt der religiösen Zugehörigkeiten, Herkunft und Weltanschauungen der Bestatteten ist der Friedhof sehr vielfältig – neben östlicher Formensprache wurden bei Grabstätten auch typisch klassizistische, neugotische und modernistische Gestaltungsformen verwendet.

2009 wurde ein Denkmal für die Opfer der Großen Hungersnot in der Ukraine aufgestellt – eine Arbeit des Bildhauers Giennadij Jerszow (* 1967). Im Jahr 1921 wurden auf dem Friedhof Konservierungsarbeiten am Grabstein von Pater Jerzy Klinger (1918–1976) durchgeführt, der von Jerzy Nowosielski entworfen wurde. Im Jahr 2024 bezuschusste die Stadt Warschau die Restauration einer Grabstätte der Familie Istomin, das zu den größten des Friedhofs gehört. Das Gebäude im byzantinischen Stil hat eine dekorative Sandsteinverkleidung und einen Turm mit fünf kleinen Kuppeln.[3]

Auf dem Friedhof können mittlerweile Verstorbene aller Glaubensrichtungen bestattet werden.

Grabstätten

Grabstätte der ermordeten Kinder aus dem Waisenhaus der Johannes-Klimakos-Pfarrei

Auf dem Friedhof sind zahlreiche orthodoxe Geistliche begraben, darunter vier Metropoliten der Polnisch-Orthodoxen Kirche und zwei Erzbischöfe. Neben Grabstätten von Beamten und Offizieren des zaristischen Staates und weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens befinden sich auf dem Friedhof die Gräber von ukrainischen Soldaten Symon Petljuras, die im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920 an der Seite der polnischen Armee kämpften,[4] im Zweiten Weltkrieg gefallene Soldaten der Roten Armee und von verunglückten Bauarbeitern des Kulturpalastes in Warschau. Auch Armenier und Roma wurden auf dem Friedhof bestattet.

Ein auffälliges Grabmal befindet sich am Ende eines der Friedhofswege. Hier wurde ein junges Liebespaar bestattet, das gemeinsam Selbstmord beging: Der russische Leutnant Georgij Vladimirovič Jacun und die ebenfalls russische Tochter eines Obristen, Vera Vladimirovna Onacevič, erschossen sich im November 1906 in einer Kutsche, weil die Familie des Mädchens die Verbindung ablehnte. Sie wurden auf Drängen gemeinsamer Freunde zusammen begraben, obwohl sie offiziell in keiner Beziehung standen. Eine Gedenktafel mit gemeißelten Porträts der Verstorbenen wurde neben dem Grabstein errichtet.[1]

Zu den Bestatteten gehören:

Commons: Orthodoxer Friedhof Warschau – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Orthodoxer Friedhof und Kirche des Heiligen Johannes Klimakos. In: iwaw.pl. Abgerufen am 14. September 2025 (polnisch).
  2. Registernummer: 610/1985, 804/03, in: Rejestr i ewidencja zabytków, Wojewódzki Urząd Ochrony Zabytków w Warszawie (polnisch).
  3. Mateusz Markowski, Die orthodoxen Denkmäler in Wola haben ihren Glanz wiedererlangt. Die Arbeiten wurden von der Stadt Warschau subventioniert, MadWhite (abgerufen am 6. Februar 2024)
  4. Cmentarz Prawosławny na Woli. In: dziedzictwo.org. Abgerufen am 14. September 2025 (polnisch).

Koordinaten: 52° 13′ 48″ N, 20° 56′ 40″ O