Lily Montagu

Lilian Helen Montagu

Lilian Helen Montagu, CBE (* 22. Dezember 1873 in London, Vereinigtes Königreich; † 22. Januar 1963 ebenda) war die erste Frau, die eine führende Rolle im Reformjudentum spielte. Sie war Präsidentin des West Central Jewish Club und des West Central Jewish Day Settlement. Zusammen mit Claude Montefiore gründete sie die Union of Liberal and Progressive Synagogues of Great Britain, den reformierteren Zweig des britischen nichtorthodoxen Judentums, und war die erste Vorsitzende der Hauptsynagoge, der Liberal Jewish Synagogue of St. John’s Wood in London.[1][2]

Leben und Werk

Artikel über Lily Montagu im Guardian am 20. September 1926, S. 6)

Montagu war das sechste von zehn Kindern von Ellen Cohen Montagu (1843–1919) und Samuel Montagu. Ihr Vater war ein Bankier und Edelmetallmakler, Mitglied des Unterhauses und später als 1. Baron Swaythling des Oberhauses. Ihre Mutter war die jüngste Tochter von Louis Cohen (1799–1882), einem Bankier und Börsenmakler und Mitglied einer der ältesten und angesehensten jüdischen Familien Englands. Ihre Schwester Henriette war Erzieherin, Frauenwahlrechtsaktivistin und Sozialreformerin. Montagu wuchs in einem orthodoxen Elternhaus auf und besuchte bis zu ihrem 15. Lebensjahr das Doreck College und anschließend eine Privatschule. 1893 gründete sie zusammen mit ihrer Schwester Marion (1868–1965) und ihrer Cousine Beatrice Franklin und Emily Marion Harris den West Central Jewish Girls Club, der später in der Jewish Girls’ Brigade aufging. Sie leitete dort Gottesdienste, die nur jene traditionellen Gebete enthielten, die ihrer Meinung nach für moderne Juden und Jüdinnen in ihren tatsächlichen Lebensumständen von Bedeutung waren. Von 1890 bis 1909 leitete sie ähnliche Gottesdienste für Kinder in der Synagoge.[3][4]

Anfang der 1890er Jahre traf sie Claude Montefiore, einen jüdischen Gelehrten und Vertreter des liberalen Judentums. Ihre Entdeckung dessen, was Montefiore als liberales Judentum bezeichnete und was die deutschen Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874), Samuel Holdheim (1806–1860) und andere als Reformjudentum bezeichneten, führte zu Montagus formalem Bruch mit der Orthodoxie und zu einer Entfremdung von ihrem Vater, die bis zu dessen Tod anhielt.

Gründung der Liberalen Religionsunion

Montagu wollte dem liberalen Judentum mehr organisatorischen Ausdruck verleihen und veröffentlichte in der Januarausgabe 1899 des Jewish Quarterly Review einen Aufsatz über die spirituellen Möglichkeiten des Judentums heute. Darin bat sie alle religiös engagierten Juden um Mithilfe bei der Gründung einer Vereinigung, deren Ziel die Stärkung des religiösen Lebens der anglo-jüdischen Gemeinde durch die Verbreitung liberaljüdischer Lehren war. Die Jewish Religious Union (JRU), die im Februar 1902 von Montagu gegründet wurde, führte Sabbatnachmittagsgottesdienste nach liberaljüdischem Vorbild sowie von Montagu geleitete Treffen zur Erläuterung und Verbreitung ihrer Lehren ein.[5][6]

Bis 1909 führten der anhaltende orthodoxe Widerstand gegen die JRU und die Sorge vieler, dass hier eine schismatische, liberale Bewegung entstehen könnte, zum Rücktritt der meisten der frühen, nichtliberalen Führer der Organisation und zu einer niedrigen Mitgliederzahl. In den folgenden Jahrzehnten half Montagu bei der Gründung liberaler jüdischer Synagogen in ganz Großbritannien und fungierte häufig als deren Vorsitzende oder Präsidentin. 1928 wurde sie Laienpredigerin der West Central Liberal Jewish Congregation, ein Amt, in das sie im November 1944 offiziell eingeführt wurde und das sie bis zu ihrem Tod im Dezember 1963 innehatte. Nach Montefiores Tod im Jahr 1938 übernahm sie für 23 Jahre die Präsidentschaft der JRU.[7]

Organisation der Weltunion

Montagu bei der World Union for Progressive Judaism 1926 - The American Hebrew, Band 119, Nummer 12, 30. Juli 1926, Seite 331. Von links nach rechts: Sitzend: Caesar Seligmann, Lily H. Montagu und Claude G. Montefiore. Stehend: Israel I. Mattuck, A. Leo Weil, Heinrich Stern, Louis Wolsey

Montagu hatte bereits 1925 die Idee einer internationalen JRU, war an der Gründung der World Union for Progressive Judaism beteiligt und wurde schließlich deren Präsidentin. Von 1926 bis 1959 leitete sie die Angelegenheiten der Organisation. Eine ihrer ersten Aufgaben bestand darin, eine internationale Weltunionskonferenz zu organisieren, die 1928 in Berlin stattfand. Während der Konferenz fand im Berliner Reformtempel ein Gottesdienst statt, und Montagu hielt als die erste jüdische Frau auf der Kanzel in Deutschland eine Predigt in deutscher Sprache zum Thema Persönliche Religion. Durch ihre Bemühungen wuchs die Zahl der Mitglieder der Weltunion stetig, und auf ihre Initiative hin entstanden neue liberale jüdische Gemeinden in Europa, Südamerika, Israel, Südafrika und Australien. Als der zweite Präsident der Weltunion, Leo Baeck, aus gesundheitlichen Gründen 1955 zurücktrat, wurde Montagu zur Präsidentin der Weltunion gewählt. Sie leitete Sitzungen, organisierte Konferenzen, half bei der Gewinnung neuer Mitglieder und steigerte die Aktivitäten der Union. Als der Hauptsitz der Weltunion 1959 in die USA verlegt wurde, wurde sie zur Ehrenpräsidentin auf Lebenszeit ernannt und zur Vorsitzenden des neu gegründeten europäischen Vorstands der Union gewählt.[8][9][10]

Während die meisten britischen Juden zumindest formal weiterhin den orthodoxen Gemeinden verbunden blieben, hatte die Jewish Religious Union, die in Union of Liberal and Progressive Synagogues (ULPS) umbenannt wurde, bis zu Montagus Tod 1963 das liberale Judentum als wichtige religiöse Kraft im anglo-jüdischen Leben etabliert. Auf Ersuchen der ULPS und mit Zustimmung eines Verwaltungsrats der Weltunion für progressives Judentum wurde das Lily Montagu Center of Living Judaism, in dem die West Central Liberal Congregation, der Europäische Vorstand der Weltunion und die Büros der ULPS untergebracht sind, nach ihr benannt.[11]

Soziales Engagement

Montagu gründete 1896 Englands erste jüdische Siedlungshäuser. Sie war eine der ersten Frauen, die Friedensrichterin wurde, und wurde schließlich Vorsitzende des Westminster Magistrates. Sie ebnete den Weg für die Ernennung von Fabrikinspektoren. Während des Hitler-Regimes verhalf sie Flüchtlingen zur Flucht aus Europa, indem sie Einreisegenehmigungen besorgte.[12][13]

Montagu war Autorin von elf Büchern, darunter Thoughts on Judaism, eine theologische Abhandlung aus dem Jahr 1902, und ihre Autobiografie The Faith of a Jewish Woman aus dem Jahr 1943.[14]

Sie starb 1963 im Alter von 89 Jahren im St. Mary’s Hospital in Paddington, London, und wurde nach streng orthodoxem jüdischem Brauch neben ihren Eltern auf dem Friedhof der Federation of Synagogues in Edmonton, Middlesex, begraben.

Auszeichnungen (Auswahl)

  • 1937: Officer, Order of the British Empire (OBE)
  • 1955: Commander, Order of the British Empire (CBE)[15]

Literatur

  • Linda Gordon Kuzmack: Woman’s Cause: Jewish Women’s Movement in England and the United States, 1881–1933. Ohio State University Press, 1990, ISBN 978-0814205150.
  • Ellen M. Umansky: Lily Montagu and the Advancement of Liberal Judaism: From Vision to Vocation. Edwin Mellen Press, 1983, ISBN 978-0889465374.
  • Margaret Jacobi: Lily Montagu – A Pioneer in Religious Leadership. In: Sybil Sheridan: Hear Our Voice: Women in the British Rabbinate. Columbia, S.C., 1998, S. 9–15.
  • Pamela S. Nadell: Women Who Would Be Rabbis: A History of Women’s Ordination 1889–1985. Boston: Beacon Press, 1998.
  • E. M. Umansky, D. Ashton: Four Centuries of Jewish Women’s Spirituality: A Sourcebook. 1992, S. 184–86.

Einzelnachweise

  1. MONTAGU, LILIAN. In: The Oxford Dictionary of the Jewish Religion. Oxford University Press, 2011, ISBN 978-0-19-973004-9 (oxfordreference.com [abgerufen am 25. August 2025]).
  2. Lily Montagu. Abgerufen am 25. August 2025 (englisch).
  3. Lilian Helen Montagu • the Open Siddur Project ✍ פְּרוֺיֶקְט הַסִּדּוּר הַפָּתוּחַ. In: the Open Siddur Project ✍ פְּרוֺיֶקְט הַסִּדּוּר הַפָּתוּחַ. Abgerufen am 25. August 2025 (amerikanisches Englisch).
  4. Jewish Museum, London: The Jewish Girls' Brigade. Archiviert vom Original am 6. März 2012; abgerufen am 26. August 2025 (britisches Englisch).
  5. Montagu, Lily | Encyclopedia.com. Abgerufen am 25. August 2025.
  6. Jewish East End of London - East End Heroines. Abgerufen am 28. August 2025.
  7. The Wikipedia Library. Abgerufen am 25. August 2025 (englisch).
  8. deutschlandfunk.de: Lily Montagu - Die erste Jüdin auf einer deutschen Kanzel. 7. August 2018, abgerufen am 25. August 2025.
  9. Jacqueline Schäfer: Die Wegbereiterinnen: Lily Montagu und Regina Jonas. In: VRdS - Verband der Redenschreiber deutscher Sprache. 19. August 2022, abgerufen am 25. August 2025.
  10. History – World Union for Progressive Judaism. Abgerufen am 26. August 2025.
  11. Women's Activism NYC. Abgerufen am 26. August 2025.
  12. Finding Aid to the Lilian Helen Montagu Papers. 1913-1961. Abgerufen am 25. August 2025.
  13. https://jwa.org/encyclopedia/article/britain-nineteenth-and-twentieth-centuries
  14. https://www.encyclopedia.com/environment/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/montagu-lily
  15. Person Page. Abgerufen am 25. August 2025.