Horst Tietz

Horst Tietz (* 11. März 1921 in Hamburg; † 28. Januar 2012 in Hannover) war ein deutscher Mathematiker und Lehrstuhlinhaber. Er galt als Spezialist auf dem Gebiet der Funktionentheorie, vornehmlich zur Theorie Riemannscher Flächen, und prägte mit seinen Publikationen und als akademischer Lehrer die Mathematik in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg.
Leben
Horst Tietz wurde 1921 als Sohn von Amanda Tietz, geborene Cornils, und dem Kaufmann Willy Tietz in Hamburg geboren. Obwohl er evangelisch getauft war, galt er nach der nationalsozialistischen Rassenideologie aufgrund seiner jüdischen Vorfahren als "Mischling". Diese Ausgrenzung prägte sein Leben während der NS-Zeit.[1][2]
Nach seinem Abitur 1939 begann er ein Chemiestudium in Berlin, wechselte jedoch 1940 zum Mathematikstudium nach Hamburg, wo er unter anderem bei Erich Hecke und Hans Zassenhaus studierte. Aufgrund der jüdischen Herkunft seines Vaters wurde er Ende 1940 zwangsexmatrikuliert, konnte aber mit Unterstützung Heckes sein Studium bei Zassenshaus und dem Physiker Lenz als Schwarzhörer fortsetzen.[2][3]
Während der Luftangriffe auf Hamburg in der Nacht des 27. Juli 1943 verlor die Familie ihr Zuhause. Auf Empfehlung Heckes ging Tietz nach Marburg zu dessen Schüler Kurt Reidemeister. Am 24. Dezember 1943 wurde er zusammen mit seinen Eltern von der Gestapo verhaftet und in das KZ-Sammellager Breitenau bei Guxhagen gebracht. Sein Vater starb dort im April 1944. Horst Tietz wurde in das KZ Buchenwald deportiert, seine Mutter in das KZ Ravensbrück, wo sie im Juni 1944 ums Leben kam. Horst Tietz überlebte das KZ Buchenwald und kehrte 1945 nach Hamburg zurück.[2][3][4]
Studium und akademische Laufbahn
Nach Kriegsende setzte er sein Studium in Hamburg fort und wechselte zum Sommersemester 1946 nach Marburg zu Herbert Grötzsch, wo er 1947 das Staatsexamen ablegte. 1950 wurde er bei Maximilian Krafft mit einer Arbeit über Fabersche Entwicklungen auf geschlossenen Riemannschen Flächen zum Doktor der Philosophie promoviert.[2][3][4]
Von 1948 bis 1951 war er "Hausmathematiker" am Physikalischen Institut der Universität Marburg bei dem Pionier der Quantenchemie Erich Hückel. 1951 wechselte er als wissenschaftlicher Assistent an der Technische Hochschule Braunschweig, wo er sich 1955 bei Rudolf Iglisch mit einer Arbeit über Laurent-Trennung und zweifach unendliche Faber-Systeme habilitierte und Privatdozent wurde. 1956 ging er an die Universität Münster und war dort in der von Heinrich Behnke aufgebauten Schule der komplexen Analysis als Dozent tätig, ab 1961 als außerplanmäßiger Professor.[2][3][4]
1962 folgte er einem Ruf an die Technische Hochschule Hannover (später Universität Hannover bzw. Leibniz Universität Hannover) als zunächst außerordentlicher Professor. Ab 1966 bis zu seiner Emeritierung 1989 war er ordentlicher Professor und Lehrstuhlinhaber für Mathematik. Als Dekan und langjähriges Mitglied des Senats hat er wesentliche Veränderungen im Fachbereich und an der Universität gestaltet und gelenkt. Auf seine Initiative hin wurde zudem die "Zentrale Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik" gegründet.[2][3][4]
Wissenschaftliche Arbeit und Lehre
In der mathematischen Forschung beschäftigte sich Tietz vor allem mit verschiedenen Aspekten der Funktionentheorie, der komplexen Analysis und der Geometrie Riemannscher Flächen. Seine frühen Arbeiten galten insbesondere den Faber-Polynomen und -Entwicklungen auf geschlossenen Riemannschen Flächen. 1951 entwickelte er eine Rekursionsformel der Faberschen Polynome. 1952 diskutierte er Verfahren zur Berechnung von bestimmten Integralen. 1955 untersuchte er konforme Abbildungen berandeter Riemannscher Flächen, 1961 folgte seine Arbeit „Zur Klassifizierung Meromorpher Funktionen auf Riemannschen Flächen“. Schließlich beschäftigte er sich mit anwendungsbezogenen Problemen der reellen Analysis und mit Grundlagen der Geometrie.
Von besonderer Bedeutung war es ihm, Mathematik verständlich zu machen, aber auch anderen Wissenschaftlern nahezubringen. 1955 verfasste er im „Handbuch der Physik“ von Flügge das Kapitel über „Geometrie“ in Band II „Mathematische Methoden“.[5] Von ihm stammen ferner die Beiträge über „gewöhnliche Differentialgleichungen“ und „Funktionentheorie“ in dem für Schule und Hochschule gemeinsam bestimmten Werk „Grundzüge der Mathematik“ sowie das Kapitel über „Funktionentheorie“ in der Reihe „Mathematische Hilfsmittel des Ingenieurs I“. Er war Mitautor und -herausgeber des Fischer-Lexikons „Mathematik I und II“ aus der Reihe „Enzyklopädie des Wissens“. Seine mathematischen Lehrbücher „Lineare Geometrie“ und „Einführung in die Mathematik für Ingenieure I und II“ wurden für viele Jahrgänge von Studierenden zum Standardwerk.[6][7]
Aufgrund seines ausgeprägten Humors und seiner didaktisch besonders gelungenen Vorlesungen erfreute er sich größter Beliebtheit bei den Studierenden, deren Förderung ihm stets ein besonderes Anliegen war.[3]
Horst Tietz starb am 28. Januar 2012 in Hannover, zwei Jahre nach seiner Ehefrau Lieselotte, geb. Wiese, mit der er seit 1948 verheiratet war und zwei Töchter hatte.
Ehrungen und Engagements
- Chevalier dans l’Ordre des Palmes Académiques (1973) - für seine Verdienste um den deutsch-französischen Studierendenaustausch und das Bildungswesen
- Chevalier de la Légion d’Honneur (Ritter der Ehrenlegion) (1975) - in Anerkennung u. a. für seine Hilfe für französische Mithäftlinge im KZ Buchenwald
- Ehrenmitglied der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg (HMG) (seit 1991)[8]
- Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft (BWG) – ordentliches Mitglied von 1976 bis 2002, ab 2003 auf eigenen Wunsch korrespondierendes Mitglied; von 1995 bis 1997 Vorsitzender der Klasse für Mathematik und Naturwissenschaften.[9]
- GE/TH (Grandes Écoles/Technische Hochschulen) – seit 1968 deutscher Vertreter der Mathematik, später Präsident
- Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) (seit 1990 Hochschulrektorenkonferenz (HRK)) – Mitglied der WRK-Kommission „Hochschulzugang“ seit 1972
- Goldenes Doktorjubiläum – Festakt an der Philipps Universität Marburg am 19. Mai 2000.
- Horst Tietz Fund, gegründet zu seinem 80. Geburtstag 2001, Oberwolfach Foundation, Mathematisches Forschungsinstitut Oberwolfach[10]
Veröffentlichungen (Auswahl)
- Eine Rekursionsformel der Faberschen Polynome. Journal für die reine und angewandte Mathematik (JraM) 1952, Vol. 189, 192
- Beweis der Kongruenz eines Verfahrens von W. Bartky zur Berechnung von bestimmten Integralen. JraM 1952, Vol. 189, 246 ff.
- Fabersche Entwicklungen auf geschlossenen Riemannschen Flächen. JraM 1952, 190, 22-33
- Partialbruchdarstellung und Produktdarstellung von Funktionen auf geschlossenen Riemannschen Flächen. Arch. d. Math. 4, 31-38 (1953)
- Laurent-Trennung und zweifach unendliche Faber-Systeme. Math. Ann. 129; 431-450 (1955)
- Geometrie. In: Siegfried Flügge (Hrsg.): Handbuch der Physik. Mathematische Methoden. Springer, 1957.
- Faber-Theorie auf nicht-kompakten Riemannschen Flächen. Math. Ann. 132, 412-429 (1957)
- Zur Realisierung Riemannscher Flächen II. Math. Ann. 136, 41-45 (1958)
- Zur Klassifizierung meromorpher Funktionen auf Riemannschen Flächen. Math. Ann. 142, 441-449 (1961)
- mit Heinrich Behnke, Reinhold Remmert, Hans-Georg Steiner bzw. Heinrich Behnke, Arnold Oberschelp, Walter Oberschelp, Ernst-Jochen Thiele: Herausgabe und Beiträge zum Fischer-Lexikon Mathematik. 2 Bände, Frankfurt 1964, 1966.
- Lineare Geometrie. Lehrbuch Aschendorff, Münster 1967; 2. Auflage: Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1973.
- Einführung in die Mathematik für Ingenieure. Lehrbuch. 2 Bände. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1979–1980.
- Riemannsche Flächen, eine Brücke zwischen Geometrie und Analysis. In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 1980, S. 257-262
- Zur Summierbarkeit von Faber-Reihen. In: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Band XLIII, 1992
- Die Ineffektivität unser Hohen Schulen. DMV-Mitteilungen 1995, S. 29
- Student vor 50 Jahren. DMV-Mitteilungen 1996 Nr. 3, S. 39–42.
- German History Experienced: My Studies, My Teachers. In: The Mathematical Intelligencer. Band 22 Nr. 1, 2000, S. 12–20.
- Wissenschaft und Ethik. In: Mitteilungen des Hochschulverbandes. 1993, S. 151
- Mathematik im Nachkriegs-Marburg. In: Alma Mater Philippina, Zeitschrift des Marburger Universitätsbundes, Sommersemester 1998[11]
- Mathematik und Sprache oder Der Wert von Zweideutigkeiten. In: Uni Hannover, 1989, S. 3
Literatur
- Ebeling, Wolfgang und Remmert, Reinhold. "Horst Tietz Fund für Oberwolfach aus der Taufe gehoben", DMV-Mitteilungen (2001), 54 f.[10]
- Roth, Michael, Horst Tietz, Lions International, 4/2012, S. 66
- Schumacher, Georg: In memoriam Horst Tietz (1921–2012). Jahresbericht DMV, Band 114, 2012, Heft 4, S. 209–213
- Sonar, Thomas, Prof. Dr. Horst Tietz, Ein Nachruf, Jahrbuch der BWG (2012), 282 ff.
- Tietz, Horst, in: Walter Habel (Hrsg.): Wer ist wer? Das deutsche Who’s who. 24. Ausgabe. Schmidt-Römhild, Lübeck 1985, S. 1251.
- Tietz, Horst, Aus dem Leben durch die Hölle zum Polarstern 1921–1950, unveröffentlichte Autobiografie (notiert 2006/2007)
- Tietz, Horst, Ein Abend der Erinnerung, Manuskript (1995)
- Tietz, Horst, Erlebte Geschichte, Mein Studium - meine Lehrer, DMV-Mitteilungen (1999), S. 43 ff.
Weblinks
- Literatur von und über Horst Tietz im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Horst Tietz im Mathematics Genealogy Project (englisch)
- Horst Tietz in der Datenbank zbMATH
- Fotos (Oberwolfach)
- Erinnerungen von Tietz besonders an Hückel
Einzelnachweise
- ↑ Arolsen Archives - International Center on Nazi Persecution. Abgerufen am 15. November 2021.
- ↑ a b c d e f Horst Tietz: Erlebte Geschichte, Mein Studium - meine Lehrer. (PDF) DMV-Mitteilungen 4/ 99, April 1999, S. 43 ff. .
- ↑ a b c d e f Sonar, Thomas: Prof. Dr. Horst Tietz, Ein Nachruf. (PDF) Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft, 2012, S. 282 ff. .
- ↑ a b c d Schumacher, Georg: In memorian Horst Tietz (1921–2012). (PDF) In: Jahresbericht DMV. S. S. 209-213 .
- ↑ H. Tietz: Geometrie. In: Flügge, S. (eds) Encyclopedia of Physics / Handbuch der Physik. Vol 1 / 2. Springer, Berlin, Heidelberg., 1955 .
- ↑ Horst Tietz: Einführung in die Mathematik für Ingenieure I. Vandenhoeck & Ruprecht, 1979 .
- ↑ Horst Tietz: Einführung in die Mathematik für Ingenieure II. Vandenhoeck & Ruprecht, 1980 .
- ↑ Mathematische Gesellschaft in Hamburg (gegr. 1690). Abgerufen am 17. September 2025.
- ↑ Die BWG gedenkt ihrer verstorbenen Mitglieder. In: bwg-nds.de. Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft, abgerufen am 9. April 2023.
- ↑ a b Ebeling, Wolfgang und Remmert, Reinhold: "Horst Tietz Fund" für Oberwolfach aus der Taufe gehoben". In: DMV-Mitteilungen. 2001, S. 54 f. .
- ↑ Tietz: Mathematik im Nachkriegs-Marburg. Abgerufen am 17. September 2025.