Erich Nüchter

Erich Nüchter (geboren am 26. Juni 1903 in Creglingen, Württemberg; gestorben am 24. November 1989 in Friedberg, Bayern) war ein deutscher Bildhauer, Kunstschmied und Maler. Er gilt als einer der wenigen Künstler der Nachkriegszeit, die die figurative Plastik aus handgeschmiedetem Eisen zu einer eigenständigen Kunstform erhoben haben.[1] Wegen seiner Fähigkeit, dem spröden Material Eisen eine verblüffende Leichtigkeit und Beweglichkeit zu verleihen, wurde er von der zeitgenössischen Presse als der „Poet mit der harten Hand“ oder als „Amboss-Bildhauer“ bezeichnet.[1]

Nüchters Œuvre zeichnete sich durch seine stilistische Bandbreite aus, die von filigranen Architekturelementen wie Gittern und Toren bis hin zu lebensnahen, humoristischen Plastiken reichte, die oft auf Karikaturen beruhten. Neben seiner Arbeit als Kunstschmied, für die er international bekannt wurde, schuf Nüchter auch ein umfangreiches Werk als Maler von Aquarellen, Ölbildern und Grafiken.[2] [3]

Leben

Erich Nüchter wurde 1903 als Sohn eines Buchbinders geboren. Er verbrachte seine Schulzeit in Ingolstadt, wo sein Vater ein Schreibwarengeschäft führte.[2] Anders als seine Geschwister interessierte er sich schon früh für die Kunst. Dennoch begann er nach seiner Schulzeit in einer Augsburger Firma eine Lehre als Schlosser und Schmied.[4]

Parallel zu seiner handwerklichen Ausbildung schrieb er sich bereits um 1920 an der Kunstschule in Augsburg ein.[4] Dort studierte er Malerei bei Professoren wie Gloggner (auch Glocker genannt), Döllgast, Rupflin (auch Rupfling genannt), Schneck und Mair (auch Meier genannt).[1][4][5]

Nach einem Betriebsunfall wechselte Nüchter in den Augsburger Industriebetrieben, wo er tätig war, zunächst in ein Zeichenbüro und später in die Werbeabteilung.[4] Zum freischaffenden Künstler wurde Nüchter erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem er in Augsburg ausgebombt und nach Unterschöneberg evakuiert worden war. Dort half er einem Schmied bei der Arbeit und entwickelte die Idee, figürliche Darstellungen zu schmieden.[4][3]

Eine entscheidende Wende in seinem Schaffen trat um 1949 ein, als er vom Eisenwerk Gebrüder Frisch in Kissing (bei Augsburg) einen Auftrag erhielt. Die Firmenleitung erkannte sein Talent und ermöglichte ihm die Einrichtung einer kleinen Schmiede in einer Ecke der Werkhalle. Diese industrielle Förderung war grundlegend, da sie ihm das Material und die notwendige Infrastruktur für seine Technik sicherte. Viele seiner frühen Plastiken gingen als Geschenke der Firma Frisch an Kunden in alle Welt.[4][1][3]

Im Jahr 1953 trat Nüchter der Münchner Künstlergenossenschaft, Gruppe Bildhauer, bei. Er war bis etwa 1985 ein ständiger und erfolgreicher Aussteller der Frühjahrsausstellung im Haus der Kunst in München.[4][6]

Erich Nüchter vollendete 1988 sein 85. Lebensjahr, was die Augusta-Bank in Augsburg mit einer umfassenden Ausstellung seiner Werke ehrte. Zuletzt widmete er sich hauptsächlich der Aquarellmalerei.[3] Nüchter starb am 24. November 1989 nach kurzer Krankheit im Krankenhaus Friedberg.[3]

Werk

Figurative Schmiedekunst

Nüchters besondere Leistung lag in der Übertragung der Karikatur in die Dreidimensionalität des Eisens. Er fertigte seine Figuren (meist zwischen 10 und 60 cm hoch) am Amboss, wobei er das Material glühend formte, um ihm eine geschmeidige, lebendige Bewegung zu verleihen – eine Technik, die bei dem spröden Material als Meisterleistung galt.[1][2]

Nüchters Liebe zur Karikatur führte dazu, dass er typische Charaktere in Eisen formte. Er hielt seine Beobachtungen stets mit einem dicken, stumpfen Bleistift auf Papier fest, bevor die Skizzen als Vorlage neben der Esse hingen.[7] Zu seinen bekanntesten Karikatur-Plastiken zählen Figuren wie der Don Quijote, Sir Falstaff (der auch als Falstaff Kosake oder Ochs von Lerchenau nach dem Vorbild des Sängers Kurt Böhme entstand), Der Arrogante und Der Kosake.[6] [7] Andere Figurentypen waren der Tod, der typische Oberbayer, Der Bücherfreund 1 sowie Figuren aus Opern wie Don Pasquale und Bürgermeister van Bett.[4]

Die Weihnachtskrippe

Als sein technisch komplexestes Werk gilt die komplette, handgeschmiedete Weihnachtskrippe, die er 1959 als Geschenk für den kaufmännischen Leiter des Eisenwerks Frisch schuf.[1][4][8]

Die Krippe, die Nüchter in etwa 250 Arbeitsstunden über fünf Monate hinweg anfertigte, wurde in der Fachwelt als „vermutlich die einzige handgeschmiedete, die es überhaupt gibt“ gefeiert.[8][4][1] Diese Einschätzung wurde durch einen Professor des Münchner Nationalmuseums bestätigt.[8] Die Marienfigur musste über hundertmal geglüht werden. Eine technische Besonderheit stellte die Fertigung der Tiere dar, da Ochs, Esel und der Elefant der Heiligen Drei Könige hohlgeschmiedet werden mussten, um die Maße (Figuren bis zu 45 cm) zu halten, ohne unkontrollierbar zu werden.[8] [9]

Inhaltlich wich Nüchter von herkömmlichen Darstellungen ab: Maria säugte das Kind nicht in ihrem Schoß, Joseph legte ihr beschützend die Hand auf die Schulter, und ein Blinder wurde von einem Buben zum Licht der Krippe geführt. Die Glocken des zugehörigen Kerzenleuchters waren auf die Melodie von „Stille Nacht“ abgestimmt.[8] [9]

Der Fuggerzug

Ein weiteres komplexes Gruppenwerk ist der Fuggerzug, ein mittelalterlicher Handelszug komplett mit Pferden und Hunden. Dieses Werk hat eine besondere regionalhistorische Bedeutung für Augsburg, da es die historische Identität der Fuggerstadt in Nüchters einzigartigem Medium festhält. Die Kunstsammlungen Augsburg würdigen den Fuggerzug als Hauptwerk und planen, es im Zentrum einer Ausstellung mit dem Titel „Vom Zeichnen zum Schmieden – Erich Nüchter“ zu präsentieren.[10]

Das malerische Œuvre

Obwohl Nüchters Ruhm hauptsächlich auf seiner Kunstschmiedearbeit beruhte, war er auch ein vielseitiger Maler und Grafiker. Sein Werk umfasste Ölbilder, Bleistiftzeichnungen, Rötelarbeiten, Grafiken und Skizzen, sowie Glasmalerei.[2][5] Als Maler konzentrierte sich Nüchter auf Landschaften, Stillleben und charakteristische Porträts. Besonders bekannt wurde sein anekdotisches Stillleben Unsterbliche Heringe, das er unmittelbar nach dem Krieg in der „Markenzeit“ malte, wobei die Heringe nach dem Dienen als Modell dem Eigentümer zurückgegeben werden mussten. Dieses Werk wurde als Spiegelbild der Entbehrungen der Nachkriegszeit interpretiert.[2][5]

Im Alter verlagerte Nüchter seinen Fokus verstärkt auf die Malerei, insbesondere das Aquarellieren.[1][3] Da ihm die Schmiedearbeit zunehmend schwerfiel, entwickelte er sein „rollendes Atelier“: Er steuerte seinen BMW stets so in Position, dass er vom Beifahrersitz aus schwäbische und oberbayerische Landschaftsmotive, vorwiegend im Raum Aichach/Friedberg, in Aquarellen festhielt.[10][3]

Öffentliche Aufträge und Sakralkunst

Nüchter schuf zahlreiche architekturbezogene Werke wie einzigartige Heizungsverkleidungen, Gartentore, Fenstergitter, Raumteiler und Lampen.[6]

Ein herausragendes öffentliches Werk ist das Kriegerdenkmal an der Pfarrkirche in Törwang auf dem Samerberg (Oberbayern), das er 1955 schuf.[11][6] Das Denkmal, dessen Komposition aus einem Vorentwurf des Malers Karl Müller-Liedeck erwuchs, stellt die Auferstehung Christi dar: Der Auferstandene steht auf dem Michaels-Schwert, das den Drachen durchstößt, während darunter die erschrockenen Wächter symbolisiert werden. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege lobte den Entwurf seinerzeit als „Musterbeispiel einer guten Lösung“.[11]

In Friedberg (Bayern) gestaltete Nüchter zudem zwei Brunnen: den St.-Florian-Brunnen in der 5. Baugenossenschaft und den Brunnen mit Zwei Vögeln in der Pius-Häusler-Siedlung.[2]

Rezeption und Vermächtnis

Anerkennung und Stil

Nüchter galt als „Rundum-Künstler“ dem „keine Form der Darstellung fremd ist“. Seine Karikaturen dokumentierten nicht nur seinen Humor, sondern auch seine Beobachtungsgabe. Die Presse hob hervor, dass er das „Weltbetrachtende, Grüblerische“ des Schwaben mit einem „deutlichen Zug zum Verschmitzten“ verband.[5]

Obwohl seine Werke im Münchner Haus der Kunst, wo er seit 1953 regelmäßig ausstellte, oft schon am ersten Tag verkauft wurden, galt er in seiner Heimatstadt Augsburg im weiteren Kreis lange als „verhältnismäßig unbekannt“.[6][4] Dieser scheinbare Widerspruch unterstreicht, dass seine traditionelle, handwerkliche Stilrichtung in den konservativen Münchner Kunstkreisen, die er mit der Künstlergenossenschaft pflegte, schneller Anerkennung fand als möglicherweise in der lokalen Augsburger Szene.[4][1]

Lehrer und Bewahrer des Handwerks

Nüchter war lange Jahre als ehrenamtlicher Schmiede-Ausbilder in der Lehrschmiede der Goetzewerke Friedberg tätig und leistete dies bis in seine späten 70er und 80er Jahre (mindestens bis 1983).[12][5] Die Goetzewerke würdigten diese Leistung, indem sie ihm zu seinem 80. Geburtstag einen Katalog seiner Skizzen widmeten. Die Zusammenarbeit mit der Industrie (zuerst Frisch, dann Goetze) sicherte nicht nur sein eigenes Schaffen, sondern auch die Weitergabe der handwerklichen Fertigkeiten.[12][5]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h i {Plastiken aus Eisen geschmiedet. Augsburger Zeitung, 25. Juni 1973
  2. a b c d e f Geschmiedete Poesie, Oktober 1975 
  3. a b c d e f g Vom Handwerk zur Kunst, 27. November 1989 
  4. a b c d e f g h i j k l Plastiken - am Amboß geschaffen. Augsburger Rundschau, 26. Juni 1963
  5. a b c d e f Einmalige schöpferische Begabung. Augsburger Zeitung, 26. Juni 1983
  6. a b c d e Seine Kunstwerke entstehen am Amboß. Augsburger Rundschau, 26. Juni 1968
  7. a b Erich Nüchter: Ein Künstler von Format, Oktober 1975 
  8. a b c d e Christkindl, aus Eisen gehämmert. Süddeutsche Zeitung, 24. Dezember 1959
  9. a b Das Weihnachtswunder aus Eisen geschmiedet, 1959 
  10. a b Malerische Motive der eigenen Umgebung, Dezember 1976 
  11. a b Ein Kunstwerk auf dem Samerberg. Freiburger Volksbote, 12. September 1955
  12. a b Erich Nüchter 75, Juni 1978